Vulnerabilität
Allgemeines
Das Fremdwort Vulnerabilität wurde aus der modernen englischen Medizinethik einfach übernommen und eingedeutscht. Korrekt übersetzt bedeutet „vulnerability“ Verwundbarkeit oder Verletzlichkeit. Ursprünglich kommt der Begriff aus der lateinischen Rechtssprache. „vulnus“ war die Verletzung, die Wunde, der Schaden, die Kränkung oder der Seelenschmerz. Der Begriff hatte schon damals im Römischen Reich sowohl eine konkrete (sichtbare) als auch eine abstrakte (unsichtbare) Bedeutung. Der „vulnerarius“ war der römische Wundarzt.
Die sogenannten vulnerablen Gruppen in der Bevölkerung sind diejenigen, um die sich der deutsche Sozialstaat verstärkt kümmern muss/soll. Traditionell waren in Europa Witwen und Waisen vulnerable Gruppen, weil sie hier einst keine eigene Rechtsfähigkeit besaßen. Als rechtsfähig galten im Römischen Recht nämlich nur Männer. Früher kümmerten sich vor allem die christlichen Kirchen um vulnerable Gruppen im Staat. Seit Beginn der deutschen Sozialgesetzgebung unter Reichskanzler Bismarck wurde die Gesamtkodifikation des deutschen Sozialrechts immer umfangreicher und komplexer. Auch mit der Einführung der Pflegeversicherung nach der deutschen Wiedervereinigung war dieser demokratische Gesetzgebungsprozess in Deutschland noch nicht vollendet. Das 1. Buch des deutschen Sozialgesetzbuchs trat zum 01.01.1976 in Kraft. Das bisher letzte 14. Buch trat überwiegend erst am 01.01.2024 in Kraft. Es soll unter anderem die sozialen Entschädigungen nach der Corona-Pandemie für anerkannt Impfgeschädigte regeln helfen.
Zahlreiche internationale Philosophinnen und Philosophen - speziell in der Medizinethik - bearbeiten und beschreiben aus aktuellen Anlässen das Phänomen der menschlichen Verletzlichkeit bzw. Vulnerabilität (französisch: vulnérabilité; englisch: vulnerability; italienisch: vulnerabilità). Auch in der deutschen Politik ist das Thema seit längerem angekommen. Alle Menschen mit rechtlichem Betreuungsbedarf gehören eindeutig zu den vulnerablen Gruppen.
völkerrechtliche Übereinkommen
Am 19.10.2005 verabschiedete die Generalkonferenz der UNESCO ihre Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte. Die authentischen Sprachen dieser internationalen Erklärung sind Englisch und Französisch. Der Artikel 8 lautet auf Englisch:
„Article 8 – Respect for human vulnerability and personal integrity
In applying and advancing scientific knowledge, medical practice and associated technologies, human vulnerability should be taken into account. Individuals and groups of special vulnerability should be protected and the personal integrity of such individuals respected.“
Der Sprachendienst des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland hat den Artikel 8 dann folgendermaßen übersetzt:
„Artikel 8 – Achtung der Schutzbedürftigkeit des Menschen und der persönlichen Integrität
Bei der Anwendung und Weiterentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse, der medizinischen Praxis und diesbezüglicher Technologien soll die Schutzbedürftigkeit des Menschen berücksichtigt werden. Einzelne und Gruppen, die besonders schutzbedürftig sind, sollen geschützt, und die persönliche Integrität solcher Einzelpersonen soll geachtet werden.“
Die Ersetzung des Ursprungsbegriffs Vulnerabilität durch Schutzbedürftigkeit im Deutschen zeugt von einer traditionell-paternalistischen Sichtweise. Wenn schon nicht die wörtliche Übersetzung der Verletzlichkeit gewählt wurde, so hätte der Begriff Unterstützungsbedürftigkeit die ursprüngliche Bedeutung des Wortes im Sinne der deutschen Sozialhilfe etwas besser getroffen.
Am 03.05.2008 trat in der Folge das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen international in Kraft. In Deutschland wurde dieses völkerrechtliche Übereinkommen am 23.03.2009 rechtskräftig (Ratifikation). Vor dem geschichtlichen Hintergrund der zahlreichen Krankenmorde und medizinischen Menschenversuche während der NS-Diktatur beeinflusste dieses Völkerrecht die Betreuungsrechtsreform in Deutschland sehr stark und relativ schnell.
Sorge und/oder Vernachlässigung
Wie der Säugling von seiner Mutter von Natur aus abhängig ist, um zu überleben, so ist der verletzliche oder verletzte Mensch ohne die Hilfe anderer Menschen nicht in der Lage, seine Grundbedürfnisse zu stillen. Hier wie dort geht es um Sorge, um Autonomieförderung, um Zuspruch. Der oder die Sorgende besitzt stets noch Hoffnung auf eine positive Entwicklung seines/ihres „Sorgenkindes“. Eine Medizin ohne Sorge wäre nur Untersuchung an Objekten wie in der Rechtsmedizin.
Sorgebereite Menschen stehen für verletzliche Menschen ein und engagieren sich für deren Wohlbefinden aus ethischen oder/und persönlichen Gründen. Professionelle Sorge wie bei Berufsbetreuern entsteht nicht durch eine persönliche Bindung an den verletzlichen Menschen, sondern allein aus der Unterstützungsbedürftigkeit des anderen. Der Gleichheitsgrundsatz gemäß Artikel 3 GG motiviert bürgerlich Sorgende zur ausgleichenden Tätigkeit in der Fürsorge – haupt- oder ehrenamtlich. Echte humanitäre Sorge wird vom Horizont des verletzlich miterlebten Menschen aus gedacht (Empfängerhorizont) und dann freiwillig zur eigenen sorgenden Ver-antwort-ung gemacht. Sorge (englisch: care) ist soziale Kooperation durch Verantwortungsübernahme.
Ernsthafte Erkrankungen stellen für alle Menschen Lebenskrisen dar und machen die Verletzlichkeit der Menschheit an sich durch den Einzelfall deutlich. Um diese Lebenskrisen möglichst erfolgreich überwinden zu können, sind in Sozialstaaten sorgende Einrichtungen vor Ort notwendig. Fehlen diese sorgenden Einrichtungen, dann spricht man – wie in dysfunktionalen Familien – von Vernachlässigung.