Natürlicher Wille

Aus Online-Lexikon Betreuungsrecht
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der natürliche Wille ist der Wille, der in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit gefasst wird.

Allgemeines

Die Unterscheidung zwischen freiem und natürlichem Willen ist insbesondere im Betreuungsrecht wichtig, da ein Betreuer nicht gegen den freien Willen eines Volljährigen bestellt werden darf (§ 1814 Abs. 2 BGB). Durch das Fehlen eines freien Willens ist der Mensch weder geschäfts- noch einwilligungsfähig. Der natürliche Wille ist aber keinesfalls bedeutungslos.

Das Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Leben (Art. 2 Absatz 1 GG) darf durch den Betreuer nur nach dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit verletzt werden. Auch die Auswahl des Betreuers hat sich nach dem natürlichen Willen des Betreuten zu richten.

Der natürliche Wille taucht im Betreuungsrecht noch an anderer Stelle auf, bei den Sterilisationsvoraussetzungen in § 1830 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Eine Sterilisation darf nach den Vorstellungen des Gesetzgebers nämlich auch dem natürlichen Willen des Betroffenen nicht entgegenstehen.

Bei der medizinischen Zwangsmaßnahme1832 BGB) geht es ebenfalls um den entgegenstehenden natürlichen Willen.

arbitrium brutum

Wenn betreute Menschen durch Naturgewalten, häusliche Gewalt oder Staatsgewalt wie Tiere in die Enge getrieben werden, reagieren sie oft mit instinktgetriebenen, natürlichen Verhaltensweisen, die dem individuellen Überleben dienen sollen. Dabei gibt es - je nach Bedrohungslage - drei völlig unterschiedlich geeignete, mehr oder weniger wirksame Überlebensstrategien:

1. Angriff oder Aggression

Mögliche Formen von aggressiven Verhaltensmustern beim Menschen sind Ärger, Gereiztheit, Ironie, Spott, Sarkasmus, Überheblichkeit, Wutausbruch, Verurteilungen der Anderen, körperlicher Angriff, verbaler Angriff durch Anschreien oder Beschimpfen.

2. Flucht oder Ausweichen

Mögliche Formen von ausweichenden Verhaltensmustern beim Menschen sind Beleidigtsein, Verzagtheit, Niedergeschlagenheit, Innerer Rückzug, Innere Kündigung, Verstummen.

3. Totstellen oder Täuschung

Mögliche Formen von täuschenden Verhaltensmustern beim Menschen sind Körperstarre, Lähmung, Denkstarre, Begriffsstutzigkeit, Monotonie im Reden oder Fühlen, Verlust der Empathie.

Werden alle drei biologischen Überlebensstrategien nach einer ungesunden Sozialisation vom individuellen Nervensystem synchron vermischt abgerufen, kann es paradoxerweise zum Suizid kommen, wenn die geistige Selbstbestimmung höher gewertet wird als das eigene Leben. Solche Menschen gelten heute als Kranke, denn sie stellen in Belastungssituationen eine gesundheitliche Gefahr für sich selbst dar. Ein gut funktionierender und aufgeklärter Rechts- und Sozialstaat könnte solche Belastungssituationen bei diesen Kranken präventiv verhindern, wenn sie rechtzeitig erkannt werden.

Rechtsprechung

OLG Hamm, Beschluss vom 28.02.2000 - 15 W 50/00; BtPrax 2000,168 (mit Anm. Hoffmann S. 2357 und Pöld-Krämer S. 237) = FamRZ 2001,314 = FGPrax 2000,107 = NJW 2001,1800 = OLGR 2000,176 = RdLH 2000,139:

  1. Werden die Verfahren auf Bestellung eines Betreuers für die Einwilligung in die Sterilisation und betreuungsgerichtliche Genehmigung der Einwilligung des Betreuers zeitlich eng nacheinander durchgeführt, dann brauchen Verfahrenshandlungen gleichen Inhalts und Zwecks, wie die Bestellung von Sachverständigen und die persönliche Anhörung der Betroffenen, nicht doppelt vorgenommen zu werden.
  2. Die Annahme eines der Sterilisation widersprechenden natürlichen Willens erfordert die Feststellung, dass der Betreute sich gegen die Sterilisation als solche wehrt. Richtet sich der Widerstand des Betroffenen gegen andere Beeinträchtigungen, so müssen die diesen Widerstand hervorrufenden Verhältnisse geändert werden.

LG Freiburg, Beschluss vom 16.05.2012, 4 T 93/12:

Eine Unterbringung zur Heilbehandlung kann auch dann genehmigt werden, wenn sie allein darauf gerichtet ist, die Behandlung gegen den natürlichen Willen des Betroffenen durchzusetzen.

BGH, Beschluss vom 08.08.2012, XII ZB 671/11:

  1. Da die Einwilligung des Betreuers in eine Zwangsbehandlung mangels gesetzlicher Grundlage nicht genehmigungsfähig ist, kommt die Genehmigung einer entsprechenden Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB nicht in Betracht, wenn die Heilbehandlung wegen der Weigerung des Betroffenen, sich behandeln zu lassen, nicht durchgeführt werden kann (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 20. Juni 2012 - XII ZB 99/12 und XII ZB 130/12 - jeweils juris).
  2. Die Genehmigung einer Unterbringung zur Heilbehandlung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB kommt allerdings noch in den Fällen in Betracht, in denen nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass sich der Betroffene in der Unterbringung behandeln lassen wird, sein natürlicher Wille also nicht bereits der medizinisch notwendigen Behandlung entgegensteht und er die Notwendigkeit der Unterbringung nicht einsieht (im Anschluss an Senatsbeschluss BGHZ 166, 141, 152 = FamRZ 2006, 615, 618).

BGH, Beschluss vom 07. 08.2013, XII ZB 223/13:

Die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen ist nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 28. September 2011 XII ZB 16/11 FamRZ 2011, 1866 und vom 4. August 2010 XII ZB 167/10 FamRZ 2010, 1648). Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn die beabsichtigte Entscheidung dem natürlichen Willen des Betroffenen entspricht.

LG Lübeck, Beschluss vom 09.07.2014, 7 T 398/14

Auch vor jeder erneuten oder verlängerten ärztlichen Zwangsmaßnahme ist nochmals darauf hinzuwirken, dass der Betroffene seinen natürlichen Willen so ändert, dass dieser sich nicht (mehr) gegen die Maßnahme richtet.

Literatur

Bücher

Zeitschriftenbeiträge

Siehe auch