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Betreuung und Grundrechte

Auch dem Betreuten stehen alle Grundrechte zu. Fraglich ist in Bezug auf das Betreuungsrecht jedoch, wem gegenüber. Als weitere Akteure kommt im wesentlichen neben dem Betreuer das Vormundschaftsgericht (ab 1.9.2009 Betreuungsgericht) in Betracht, welches die Betreuung anordnet, den Betreuer auswählt und kontrolliert und ggf. einzelne Entscheidungen im Rahmen gerichtlicher Genehmigungspflichten trifft. Gegenüber dem Betreuer, der im Regelfall als Privatperson dem Betreuten entgegentritt, übt das Vormundschaftsgericht unmittelbare rechtsprechende Staatsgewalt aus und ist daher direkt an die Grundrechte gebunden. In Betracht kommen im betreuungsrechtlichen Umfeld neben dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 GG) das Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG), das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG), das Wohnungsgrundrecht (Art. 13 GG), das Eigentumsgrundrecht (Art. 14 GG), der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und die Rechtsgarantien bei Freiheitsentzug (Art. 104 GG).

Eingriffsgrundlage

Das Grundgesetz garantiert jedem Menschen ein Leben in Würde. Selbstbestimmung, Freiheit der Person, körperliche Unversehrtheit und Gleichheit vor dem Gesetz gehören zu den wichtigsten Grundrechten. In diese Grundrechte darf per Gesetz eingegriffen werden, der Wesenskern muss aber erhalten bleiben. Daher ist das Wohl des Betreuten vorrangig durch ihn selbst zu bestimmen. In diese Grundrechte darf nur nach Maßstab der Verhältnismäßigkeit eingegriffen werden, wenn Rechte des Betreuten oder Dritter von gleichem Rang gefährdet sind. Hierin sind die Grenzen der „Freiheit zur Krankheit“ zu sehen, die das BVerfG bislang nicht eindeutig gezogen hat (BVerfGE 58, 208, 224 ff). In einem Beschluss vom 23.03.1998 (NJW 1998, 1774) hat das BVerfG bestätigt, dass auch dem psychisch Kranken „in gewissen Grenzen die ‚Freiheit zur Krankheit‘ belassen bleiben muss“. Der Schutz Dritter ist nicht Aufgabe des Betreuungsrechtes. Hierfür sind Ländergesetze zuständig.

Betreuungsverfahren

Während das frühere Entmündigungsverfahren deutliche Defizite in Bezug auf die obigen Grundrechte aufwies, sind das Betreuungsverfahren und das Unterbringungsverfahren mit zahlreichen Verfahrensvorschriften (insbesondere zur Verfahrensfähigkeit, zur Verfahrenspflegerbestellung und persönlichen Anhörung) prinzipiell geeignet, dem Grundrechtsschutz Genüge zu tun. Ob dieses in der Rechtsprechungswirklichkeit immer der Fall ist, ist hierbei eine andere Sache. Durch das 1. Betreuungsrechtsänderungsgesetz wurde zum 01.01.1999 insoweit ein Rückschritt bei den Verfahrensgarantien vollzogen, dass bei der Genehmigung gefährlicher Heilbehandlungen nach § 1904 BGB das vorher ausnahmslose Verbot der Bestellung des behandelnden Arztes zum Sachverständigen in § 69d Abs. 2 FGG durch eine Sollbestimmung und die Öffnungsklausel „in der Regel“ ersetzt wurde. Im Rahmen des 2. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes wurde zum 01.07.2005 der mögliche Verzicht auf eine Begutachtung durch Sachverständige beim Vorhandensein eines MDK-Gutachtens in § 68b Abs. 1a FGG aufgenommen. Außerdem wurde die längstmögliche Überprüfungsfrist bei der Betreuerbestellung von fünf auf sieben Jahre verlängert (§ 69 FGG).


BGH, Beschluss vom 22.09.2010, XII ZB 135/10:

Da es sich bei der Zwangsmedikation um einen schweren Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen handelt, die die Ausübung von Gewalt beispielsweise durch Fixierung gestattet, ist die Genehmigung nur dann zulässig, wenn die Zwangsmedikation erforderlich und angemessen ist. Aufgrund der Schwere des Eingriffs ist diese Frage besonders sorgfältig zu prüfen.

Bundesverfassungsgericht zum Kontrollbetreuer

BVerfG, Beschluss vom 10.10.2008 1 BvR 1415/08:

Aus den Gründen: Die gerichtliche Bestellung eines Betreuers (§ 1896 BGB, § 65 FGG, § 271 FamFG) stellt für den unter Betreuung Gestellten einen solchen gewichtigen Grundrechtseingriff dar. Dies gilt auch für die Bestellung eines so genannten Kontrollbetreuers gemäß § 1896 Abs. 3 BGB. Der Betreute wird in seiner Entscheidungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG ganz oder teilweise in den vom Gericht bestimmten Angelegenheiten eingeschränkt. An seiner Stelle und für ihn entscheidet in den vom Gericht angeordneten Aufgabenkreisen der Betreuer, der den Wünschen des Betreuten nur insoweit zu entsprechen hat, als dies dessen Wohl nicht entgegensteht (§ 1901 Abs. 2 und Abs. 3 BGB). Auch in höchstpersönlichen Angelegenheiten kann es deshalb zu Entscheidungen gegen den ausdrücklichen Willen des Betreuten kommen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 02.08.2001 - 1 BvR 618/93 -, NJW 2002, S. 206 <206>).

Wird wie hier ein so genannter Kontrollbetreuer zur Geltendmachung von Rechten des Betreuten gegenüber seinen Bevollmächtigten eingesetzt sowie dem Kontrollbetreuer ausdrücklich der Wirkungskreis des Widerrufs erteilter Vollmachten zugewiesen und macht der Kontrollbetreuer von der ihm zugewiesenen Befugnis bereits zwei Tage nach seiner Bestellung vom 26.10.2007 am 28.10.2007 Gebrauch, ist dem Betroffenen die Möglichkeit der Erlangung gerichtlichen Rechtsschutzes - gegen die Anordnung der Kontrollbetreuung - genommen. Mit dem Widerruf der durch den Beschwerdeführer erteilten Vollmachten hat sich die Aufgabe des Kontrollbetreuers erledigt, weil die Aufgabenzuweisung an den Kontrollbetreuer in Ermangelung weiterer zu kontrollierender Bevollmächtigter ins Leere geht.

Gerade die Bestellung eines Kontrollbetreuers unter ausdrücklicher Zuweisung der Befugnis des Widerrufs erteilter Vollmachten stellt für den Betroffenen einen gewichtigen Eingriff in sein Selbstbestimmungsrecht dar. Die Erteilung von Vorsorgevollmachten zur Vermeidung einer rechtlichen Betreuung sind Ausdruck des durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Selbstbestimmungsrechts. Der nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotene effektive Rechtsschutz gebietet es daher in einem solchen Fall, ein Rechtsschutzinteresse des Betroffenen für die ihm nach dem Prozessrecht eröffneten Rechtsmittel anzunehmen, um den mit der Betreuung verbundenen Grundrechtseingriff einer Prüfung auf seine Rechtmäßigkeit zuzuführen.

Verhältnis Betreuer - Betreuter

Im Verhältnis zwischen dem Betreuten und dem Betreuer muss differenziert werden. Eindeutig ist eine Drittwirkung der Grundrechte gegeben. Da der Betreuer nicht nur bei speziellen Genehmigungspflichten, sondern auch allgemein der Aufsicht des Vormundschaftsgerichtes unterliegt (und mit Ge- und Verboten einschließlich Zwangsgeldern belegt werden kann, vgl. § 1837 Abs. 2 und 3 BGB), hat das Gericht die Beachtung der Grundrechte durch den Betreuer im Rahmen seiner Aufsicht einzubeziehen. Auch eine mögliche Betreuerentlassung nach § 1908b Abs. 1 BGB kann sich darauf stützen. Das BVerfG hat bereits 1960 die Aufsicht des Vormundschaftsgerichtes bei Unterbringungen als unabdingbar festgestellt (Beschluss des Ersten Senats vom 10.02.1960, - 1 BvR 526/53, 29/58 --BVerfGE 10, 302).

Durchsetzung von Grundrechten durch Betreuer

Ansonsten gilt für den Betreuer, dass dieser dem Betreuten auf privatrechtlicher Basis als dessen gesetzlicher Vertreter gegenübersteht und in diesem Rahmen auch Verantwortung dafür trägt, dass die Grundrechte des Betreuten nicht durch andere staatliche Stellen (Behörden, Gerichte) beeinträchtigt werden. Hierfür hat er mit Rechtsmitteln aller Art einschl. Strafanzeigen sowie Amtshaftungsansprüchen nach § 839 BGB i.V.m. (Art. 34 GG zu sorgen. Im Innenverhältnis zwischen Betreuer und Betreutem strahlen die Grundrechte im Rahmen der Bestimmung des § 1901 Abs. 2 und 3 BGB aus.

Wünsche des Betreuten und Grundrechte

Die Berücksichtigung von Wünschen des Betreuten im Rahmen der Betreuertätigkeit sowie dessen Beteiligung an Betreuerentscheidungen im Rahmen der dort genannten Besprechungspflicht sind (auch) unter den Aspekten des Grundrechtsschutzes des Betreuten zu sehen. Indes muss klar gesagt werden, dass die Bildung eines freien (von Krankheiten) unbeeinträchtigten Willens bei vielen Betreuten beeinträchtigt ist, sodass der Betreuer einen Entscheidungsspielraum besitzt, diese Wünsche beim Widerspruch mit dem objektiven Wohl des Betreuten nicht beachten zu müssen. Insoweit ist Betreuertätigkeit stets eine janusköpfige Angelegenheit, auf der einen Seite Hilfe für den Betreuten, auf der anderen Seite Schutz vor sich selbst.

Siehe auch

Postkontrolle, Anhörung, Vorführung, Zwangsbehandlung, Freier Wille, Verhältnismäßigkeitsprinzip, Selbstbestimmung, UN-Behindertenrechtskonvention

Literatur

  • Bienwald: Grundsätze eines fairen Verfahrens - Sicherung der rechte der Betroffenen; RechtspflegerStudienhafte 2009, 161
  • Brucker: gewaltfreie Pflege; BtPrax 2018, 207
  • Bschor: Freiheit zum Darmtumor? TAZ vom 12.10.2012
  • Degener: Erwachsenenschutz, Vormundschaft und Betreuung aus menschenrechtlicher Behinderungsperspektive, BtPrax 2016, 205
  • Elsbernd/Stolz: Zwangsbehandlung und Zwangsernährung in der stat. Altenhilfe; BtPrax 2008, 57
  • Gusy: Freiheitsentziehung und Grundgesetz; NJW 1992, 567
  • Hoffmann: Recht am eigenen Bild und Betreuung; BtPrax 2016, 89
  • Holzhauer: Verfassungsrechtliche Beurteilung des Entwurfs eines Betreuungsgesetzes; ZRP 1989, 451
  • Kollmer: Personensorge im Betreuungsrecht; Probleme im Spannungsfeld zwischen Eigen- und Fremdbestimmung; Rpfleger 1995, 45
  • Lachwitz: 40 Jahre Grundgesetz: Die Reform des Vormundschaftsrechts und die Grundrechte geistig behinderter Menschen, DAVorm 89, 343 und 453
  • Lang/Herkenhoff: Persönlichkeitsrechte und Menschenwürde im Alten- und Pflegeheim; NJW 2005, 1905
  • Lindacher: Der Minderjährigen-Vormund als Grundrechtsinhaber, FamRZ 1964, 116
  • Lipp: Rechtliche Betreuung und das Recht auf Freiheit; BtPrax 2008, 51
  • Lipp: Erwachsenenschutz und Verfassung; FamRZ 2013, 913
  • Rausch, Hans und Jens: Betreuung Geschäftsfähiger gegen ihren Willen? NJW 1992, 274
  • Renn: BtG und Menschenwürde; Sozialmagazin 1/90, 45
  • Schumacher: Hypertrophie der Verfahrensgarantien im BtG-Entwurf; ZRP 1991, 270
  • Seitz: Heile mit Weile - oder Recht und Freiheit zur Krankheit? NJW 1998, 3694


Infos zum Haftungsausschluss



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